Wo ist der See von Lagopesole geblieben? – Spurensuche in der vielleicht interaktivsten Ausstellung Süditaliens

Was am kleinen Vorort von Avigliano namens Castel Lagopesole sofort ins Auge fällt, ist, dass es überhaupt keinen Lago (See) gibt. Und das, wo wir doch von unserem Aussichtspunkt in Pietragalla definitiv Seen erspäht hatten. Mhm. Vielleicht würde uns der Besuch des Kastells von Lagopesole in dieser Frage weiterbringen. Doch zunächst ließen wir uns zu einem Picknick unter einem weit ausladenden Baum vor dem Schloss nieder, denn inzwischen war es Mittag geworden und über Mittag geht in Süditalien natürlich gar nichts. Schon gar kein Schlossbesuch. Allerdings sollte das bereits um 15:30 Uhr wieder möglich sein, was beeindruckend war, da die süditalienische Siesta normalerweise bis 17 Uhr dauert. Welch ein Glück für uns! Ja, eigentlich ein doppeltes Glück, denn nachdem wir uns mit belegten Brötchen, Obst und Taralli gestärkt hatten, gingen die weniger Müden von uns auf Erkundungstour, während die anderen auf der Picknickdecke das taten, was Süditaliener an einem freien Tag zwischen 14 und 16 Uhr zu tun pflegen. Schlafen nämlich.

Dabei bot der Berghang, von dessen Kuppe das Kastell hinüber zum Monte Vulture schaute, gleich zwei Naturlehrpfade für nimmermüde Mütter und deren nicht unterzukriegende Kinder, die natürlich nie schlafen. Vor allem nicht Mittags und schon gar nicht in der Nähe eines möglichen Abenteuers. Der rechter Hand liegende Pfad führte einen Weg entlang, an dem Infotafeln auf Nisthilfen für verschiedene ansässige Vogelarten hinwiesen, welche der aufmerksame Nachwuchs auch sofort in den Bäumen oder unter Sträuchern entdeckte. Der Lehrpfad endete leider nach ca. 200 Metern an einer Absperrung, weshalb wir umkehrten und uns dann links auf dem Lehrpfad mit Infotafeln zu Raubvögeln der Gegend hielten. Auf einem Bänkchen, mit der beeindruckenden Aussicht über eine grüne Ebene hinüber zum Monte Vulture vor Augen klärte dann unsere Freundin Erika das Mysterium des fehlenden Sees mit Hilfe des Internets auf: Demnach war dieser See zu Beginn des letzten Jahrhunderts von seinen Eigentümern trocken gelegt worden. Wahrscheinlich konnte man vor hundert Jahren die aktuelle Trockenheit in Süditalien nur schwer voraussehen, aber komisch kam es uns schon vor, dass jemand freiwillig auf einen See im lauschigen Tal verzichtet hatte.

Pünktlich um 15:30 Uhr standen wir dann vor dem massiven Tor der mittelalterlichen Festung, wo uns eine freundliche Mitarbeiterin einließ und erklärte, dass das Ende der 90er Jahre umfänglich restaurierte Gebäude dereinst dem Sohn des unvermeidlichen Friedrich des Zweiten gehörte, dann an einen Karl von Neapel ging und heute komplett königslos die italienische Forstbehörde beherbergte. Daneben sei ein Regionalmuseum zu besichtigen und zwar gratis, weil es sich um den ersten Sonntag im Monat handele.

Wenn man „Regionalmuseum“ hört, dann denkt man an bäuerliche Kultur und eine Ausstellung von alten Ackergeräten. Aber damit hat dieses Museum nur bedingt zu tun und uns im Gegenteil von Anfang an wirklich begeistert. Kaum ist man durch die Eingangstür getreten, bekommt man den Reisepass eines Auswanderers aus Basilikata übergeben und nimmt dessen Identität an. Dann folgt man an interaktiven Stationen seinen Spuren und erfährt so jede Menge nicht nur über den individuellen Lebensweg der Person, sondern auch über die Auswanderer im Allgemeinen. Man versteht, dass sie ein mühevolles, ländliches Leben in der dazumal stets feuchten und von Malariamücken verseuchten Vulture-Region gegen ein nicht weniger mühevolles, gefährliches und nicht selten von Heimweh geprägtes Leben fern der Heimat eingetauscht haben. So hat es sie beispielsweise als billige Arbeitskräfte in die Kohleminen der Niederlande, in die Schneidereifabriken der USA oder nach Südamerika verschlagen.

Hinter neugierig machenden Türchen verstecken sich historische Zeitungsartikel wie der über die Havarie eines Immigrantenschiffs in erbärmlichen Konditionen, der an die aktuelle Situation im Mittelmeer erinnert. Große Überseekoffer lassen sich öffnen und aus den darin versteckten Lautsprechern erfährt man beispielsweise, womit ein durchschnittlicher Auswanderer reiste und, was sein Anzug, die Socken, die Unterwäsche etc. damals gekostet haben. In Erinnerung geblieben ist mir auch ein Tisch mit einer Touchscreenoberfläche, an dem man Briefe anwählen kann, welche Emigranten an ihre Familien geschrieben haben oder die Familie an ihre ausgewanderten Männer, die dann vorgelesen werden. Oder man kann einen typischen Englischtest für Einwanderer mitmachen, der für heutige Sprachtests undenkbar einfache Aufgabenstellungen wie „Aus wie vielen Wörtern besteht der folgende Satz?“ enthält. Es ist ein Museumsbesuch der gleichermaßen überrascht, erstaunt, empört und bewegt. Wer hätte das von einem dieser typischen friderizianischen Kastelle mitten im Jottwede erwartet?

Am Ende erschloss sich uns auch, warum die Besitzer der Gegend den See von Lagopesole trockenlegen ließen: Im 18. und 19. Jahrhundert war die Vulture Region ein wahrer Morast, der den Kontakt zwischen den Orten, sowie den Ausbau der Landwirtschaft und vor allem die industrielle Entwicklung unmöglich machte, weswegen die Menschen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein ziemlich isoliert, einfachst und in unhygienischen Zuständen mit ihren Nutztieren unter einem Dach lebten. Die Entwässerung der Gegend diente daher nicht nur der Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit, sondern erleichterte auch die Reise in den nächsten Ort, der bis dahin zwar vielleicht nur einen Berg entfernt gelegen hatte aber ungleich schwierig zu erreichen gewesen war. Außerdem werwunderten nach einem zweihundertjährigen Exodus die Häuserskelette auf den Hügeln und die Leerstände in den Städten der Basilikata uns Touristen etwas weniger.

Wir haben vom Besuch des Museums im mittelalterlichen Gewand, aber auf der technischen Höhe des 21. Jahrhunderts, so viel Wissen und Verständnis für die Region mitgenommen, das diese uns nur noch mehr ans Herz gewachsen ist. Wer zwischen den Küsten Süditaliens unterwegs ist und die aktuelle Situation der Region verstehen will, sollte daher unbedingt in Lagopesole Halt machen.

Ausblick auf den inaktiven Vulkan Monte Vulture in Basilikata

12 Gedanken zu „Wo ist der See von Lagopesole geblieben? – Spurensuche in der vielleicht interaktivsten Ausstellung Süditaliens

  1. Avatar von NanuB.

    Wieder einmal ein ganz toller Bericht. Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber das viele Grün fasziniert mich. Hier liest man immer, dass Süditalien unter einem starken Wassermangel leidet. Daraus schloss ich, dass viel vertrocknet sei.
    Bis 17:00 Siesta ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Wann legt man sich dann abends schlafen?
    Liebe Grüße, B.

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    1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

      Dankeschön! Ich höre das gerne auch in Wiederholung. 😉 Noch mehr Grün gibt es im nächsten Beitrag. Wir haben wirklich viele interessante Orte in diesem Sommer besucht.

      Zu deiner Frage: Die zweite Runde der Arbeit endet oft erst um 20 Uhr. Um 21 Uhr wird bei vielen gegessen und dementsprechend spät geht man dann ins Bett.

      Wir lesen uns, bei dir oder bei mir! C.

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        1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

          Hallo,

          nein, die Grundschule meines Sohnes geht bis 13:30 Uhr. Dann kommen die Kinder nach Hause und die Familie isst zusammen. Wer arbeitet und rüstige Großeltern hat, weicht meistens auf diese aus. Wir sind beide selbstständig und können diesem alten „Hausfrauenrhythmus“ folgen. Es gibt auch Grundschulen bis 16 Uhr, aber wenige. Es gibt auch noch Schulen mit Unterricht am Samstagvormittag. Da kommen die Kinder dann unter der Woche noch eher nach Hause, d.h. man muss sie noch eher abholen. Grundschulkinder dürfen die Schule nicht ohne Begleitung verlassen.

          In den weiterführenden Schulen gibt es auch welche mit „rientro“. Da müssen die Kinder nach dem Vormittagsunterricht die Schule verlassen und nach einer Stunde zum Nachmittagsunterricht (nicht an allen Tagen) wiederkommen. Ich glaube, das haben wir für unser Kind aus organisatorischen Gründen für die Mittelschule schon mal abgewählt, denn wir haben zwar den Luxus einer langen Mittagspause, aber dafür arbeiten wir dann wieder bis abends; ich meistens von 3 oder 4 bis 8.

          In der Oberschule ist es ganz normal, dass Kinder am Nachmittag noch irgendwelche Aktivitäten in der Schule haben. Aber auch da müssen sie aus „organisatorischen Gründen“ die Schule zunächst verlassen und sich irgendwo bis zum Beginn der Nachmittagsaktivität herumtreiben.

          Das war jetzt ein bisschen umfangreichen, aber du siehst, das Nickerchen würde auch für jüngere Schulkinder noch funktionieren, wenn sie nicht schon sooooooooooo groß wären. 😉

          Liebe Grüße! C.

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          1. Avatar von NanuB.

            Ich dachte, dass es ähnlich wie in Spanien sei. Meine Kids waren dort bis 17:00 und dann noch Hausaufgaben. Das war ein langer Tag. In der Oberstufe manchmal bis 22:00 Uhr 🙈
            Da gefällt mir das italienische System sehr viel besser. Danke für all die wirklich interessante Info. Liebe Grüße zurück, B.

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            1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

              Das italienische System ist definitiv nicht für arbeitende Eltern gemacht. Tatsächlich sind in den letzen Jahren viele private Unternehmen entstanden, welche die Kinder am Nachmittag auffangen, mit ihnen Hausaufgaben und ggf. auch Nachhilfe machen. Die Ganztagsschule bis 17 Uhr bis fände ich persönlich nicht schlecht, wenn sie nicht nur aus Schule bestünde und die Kinder mit gemachten Hausaufgaben nach Hause kämen.

              Von den Kindern der Oberstufe habe ich auch schon gehört, dass viele bis 10 Uhr abends an ihren Hausaufgaben sitzen. Das hat aber meiner Meinung nach mit der Qualität des Unterrichts zu tun. Ich habe durch meine Nachhilfeschüler das Gefühl bekommen, dass die Schule nur der Ort der Wissensabfrage ist und erwartet wird, dass die Kinder das zu reproduzierende Wissen seitenweise zu Hause auswendig lernen. Das hat mit Unterricht gar nichts mehr zu tun. 😦

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              1. Avatar von NanuB.

                In Deutschland ist es ja nicht besser. Als Mutter kann man nicht Vollzeit arbeiten, wenn das Kind noch in die Kita geht. Das sind zu viele Stunden.
                Bei meinen Söhnen in der Oberstufe war es mehr, dass die Aufgaben komplex waren. Ich durfte immer die Mathe Hausaufgaben machen.🙈😂 Dann wurde gemeinsam gerätselt.
                Für Hobbies oder Sport war nur Zeit am Wochenende.

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                1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

                  Ich verstehe. Wahrscheinlich wird es in der Oberstufe bei uns auch so. Im Moment sind wir froh, dass er die Hausaufgaben weitestgehend allein macht. Und was die Hobbys betrifft, sagen wir jetzt schon immer, das die Schule zuerst kommt. Das ist leider so.

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                  1. Avatar von NanuB.

                    Der Sinn von Hausaufgaben ist, dass die Kids sie alleine machen können. Ich glaube nicht, dass das jedem Lehrer in der Oberstufe so klar ist. 😁
                    So habe ich es auch immer gehandhabt. Sport AGs und co sollten Teil des Nachmittags Curriculums sein.

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  2. Avatar von UnbekanntAnonymous

    Liebe Corinna, dein Bericht über Lagopesole hat mich echt beeindruckt!

    Sehe ich jetzt öfter, dass Museen die Vergangenheit interaktiv erlebbar machen. War in Genua auch so! Aber dein Blick für Details und dein Sinn für die passenden Anekdoten lassen einen den Ausflug fast selbst erleben. Danke! 🤗

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    1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

      Danke für das schöne Kompliment! Ich versuche immer, meine Leser an die Hand zu nehmen und die tollen Seiten Süditaliens erlebbar zu machen. Leider hat ja nicht jeder die Möglichkeit herzukommen.

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