Die Rebellen Süditaliens – Robin Hoods von Basilikata oder mörderische Kriminelle?

In Venosa, diesem niedlichen Städtchen mit römischen Ruinen und dem gut erhaltenen Schloss mit Nationalmuseum, hörten wir zum ersten Mal von Carmine Crocco, einem berüchtigten Briganten, der im 19. Jahrhundert in der Vulture Region sein Unwesen getrieben hat. Wie mir der Mitarbeiter des Tourismusvereins, mit dem ich über den berühmte Venoser Horaz plauderte, so nebenbei erzählte, war Crocco 1861 mit hunderten von Bauern, ehemaligen Soldaten und königstreuen Patrioten auf seinem Feldzug zur Wiederherstellung des „Königreiches beider Sizilien“ in die Geburtsstadt von Horaz einmarschiert. Zwar blieb er nur drei Tage dort, doch sie genügten, um mehr als 30 sich widersetzende Einwohner zu töten und ihr Eigentum zu plündern, bevor er nach Melfi weiterzog.

Damit also begann in Venosa schon ein guter Teil meiner Naivität zu bröckeln, mit der ich Briganten bis dahin für italienische Robin Hoods gehalten hatte. Nach unserem Besuch im „Museo di Brigantaggio“ von Rionero in Vulture, bin ich nun vollends froh, dass Italien schon fast hundert Jahre als Republik hinter sich hat und sich die kriminelle Energie vom Wegelagerertum im Hinterland weg auf raffiniertere, aber weniger tödliche Methoden wie zum Beispiel Steuerhinterziehung verlagert hat. So kann man heute auf den maroden Straßen der Basilikata vorsichtig, aber wenigstens ohne um sein Leben fürchten zu müssen, bis in Orte wie Rionero in Vulture vordringen.

Rionero in Vulture

Wer einmal durch besagtes Rionero in Vulture kurvt, der wird dank zahlreicher Einbahnstraßen wahrscheinlich auch auf ein kleineres, festungsähnliches Gebäude stoßen. Von außen umgibt es eine hohe Steinmauer mit Schießscharten. Es sieht nicht so aus, als sollte das Gebäude jemals jemanden willkommen heißen. Doch wieder einmal treffen wir hier einen freundlichen Freiwilligen, der uns nach telefonischer Absprache als Mitglied der Organisation „Pro Loco“ durch das als „Gefängnis“ bekannte Bauwerk führt. Wie erstaunt sind wir jedoch darüber, dass es sich bei dem wehrhaften Bau ursprünglich um eine Außenstelle eines Franziskanerklosters handelte, welche den reisenden Glaubensbrüdern im 15. und 16. Jahrhundert als Lebensmitteldepot und Unterkunft auf Reisen, sowie der Umgebung als medizinischer Versorgungspunkt gedient hatte.

Die Bourbonen unter Napoleon verstanden schnell, dass aus einem Gebäude, in das man nur schwer eindringen kann, auch schwer auszubrechen war, und funktionierten den Klosteraußenposten zum Gefängnis um, was es bis 1967 auch blieb. Heute finden im Eingangshof des Gebäudes Konzerte statt, von denen an unserem Besuchstag noch die aufgebaute Bühne und Stühle zeugen. In einem zweiten winzigen Hof, wo dereinst Mönche ihre Kräuter anbauten, durften sich später Gefangene die Füße vertreten.

Der wohl bekannteste Insasse des Gefängnisses war unserem Führer zufolge das Oberhaupt der Vulture-Bande, der Brigant Carmine Crocco aus Rionero, welcher nach der Gründung des italienischen Staates Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen hier und Melfi sein Unwesen trieb und dabei auch durch Venosa gezogen war. Dabei hatte er noch kurze Zeit zuvor auf der Seite Garibaldis erfolgreich für ein geeintes Italien gekämpft. Während seiner Haft im Gefängnis von Portoferraio schrieb er seine Memoiren, weshalb sein Leben gut dokumentiert ist (siehe auch Wikipedia).

Demnach ist seine Kindheit geprägt von Armut und Ungerechtigkeit. Noch als Jugendlicher verliert er wegen der Willkür der sozialen Oberschicht seine Eltern und wird zum Spielball ungünstiger Umstände und derer, die italienische Geschichte schreiben. Während seiner vierjährigen Militärzeit macht er Karriere, muss aber wegen der Beteiligung an einem Duell desertieren. Als er danach einen Mann im Handgemenge tötet, ist sein Schicksal als Vogelfreier endgültig besiegelt. Er flieht in die Wälder und gründet hier mit anderen Flüchtigen eine Bande, die von Diebstählen und Raub lebt. 1855 wird er gefangen und zu 19 Jahren Haft verurteilt, aber schon vier Jahre später zieht er sich erneut in die Wälder um Monticchio und Lagopesole zurück.

Weil er hört, dass Personen, die sich an Garibaldis Feldzug für die Unabhängigkeit Italiens beteiligten, freigesprochen würden, schließt er sich dessen „Zug der Eintausend“ an. Doch als er siegreich vom Feldzug Garibaldis zurückkehrt, bekommt er in der neu gegründeten gesamtitalienischen Monarchie den nächsten Tritt in den Allerwertesten: Seine Haftstrafe wird nicht nur nicht erlassen, sondern aufgrund seiner Taten vor dem Feldzug sogar verschärft. Er versucht zu fliehen, wird jedoch aufgespürt und gefangen genommen.

Inzwischen wächst die Unzufriedenheit der Landbevölkerung in der Basilikata an. Zur allgegenwärtigen Armut kommen gebrochen Versprechen wie das der Landumverteilung, außerdem Steuererhöhungen, willkürliche Verstöße gegen die Meinungsfreiheit und die Erschießungen von mutmaßlichen Wehrdienstverweigerern. Immer wieder brechen Bauernaufstände aus, die jedoch schnell niedergeschlagen werden.

Crocco wird dabei mal zum begehrten Verbündeten der königstreuen bourbonischen Mächte, die ihn aus dem Gefängnis holen, dann wieder zum gefürchteten Aufständischen, während er mordend und brandschatzend, vom einfachen Volk jedoch bewundert, durch die Vulture-Region zieht. Dabei gehen er und seine Banditen auf der einen Seite gegen Adlige und Besitzende mit kaltblütiger Grausamkeit vor, auf der anderen Seite verhalten sie sich großzügig gegenüber armen Bauern und deren Familien.

Auch als die Bourbonen schließlich endgültig aufgeben und den Truppen des Königreichs weichen, bleibt Crocco bei seinem Leben als Brigant. Erst als ein vermeintlicher Freund ihn und die Verstecke seiner Kumpane verrät, schlägt er sich 1864 bis nach Rom durch, weil er hofft, dass der Klerus, welcher den König der zwei Sizilien stets unterstützt hatte, ihm hilft, eine Amnestie zu erwirken. Doch statt sich für ihn einzusetzen, lässt man ihn verhaften und macht seinem Leben als Brigant auf diese Weise ein Ende. Er kommt vor Gericht und wird zunächst zum Tode und dann zu lebenslanger Arbeitshaft verurteilt. 1905 stirbt er in einem Gefängnis auf der Insel Elba.

Aber nicht nur des Schicksals Carmine Croccos wird in dem Museum gedacht, auch die Erinnerung an andere männliche sowie weibliche Briganten, wie zum Beispiel Filomena Pennacchio und Giuseppina Vitale, wird hier in ihrem zwiespältigen Ruhm aufrecht erhalten. Auch von Maria Giovanna Tito erzählt uns unser Führer, die von Crocco verschleppt und gefangen gehalten wird, bis sie sich irgendwann in ihn verliebt – ein Phänomen, das wir heute unter dem Namen Stockholm-Syndrom kennen – und eine ebenso brutale Brigantin wird wie Crocco, sodass sie schließlich ihre eigene Bande anführt und mit dem Brigantentum weitermacht, als Crocco sie verstößt.

Was jedoch unserem Sohn Davide am besten gefällt, ist, dass ihn unser Führer alle möglichen Waffen wie Gewehre und Säbel in die Hand nehmen lässt. So darf er sich, obwohl es sich nur um Repliken handelt, ein bisschen rebellisch fühlen und findet den Besuch dieses kleinen Museums schließlich den besten, den er je erlebt hat. Tatsächlich durften wir in noch keinem Museum Ausstellungsstücke von der Wand nehmen und damit herumfuchteln.

So verließen wir das Museum für politisch motiviertes Banditentum mit dem guten Gefühl, Spaß gehabt zu haben, während wir über die Hinterlassenschaften einer Konzertnacht, durch einen Kerker, der mal als Teil eines Klosters begonnen hatte, und die Geschichte eines kriminellen Rebellen tief in die widersprüchliche Seele des Mezzogiorno eingetaucht waren.

5 Gedanken zu „Die Rebellen Süditaliens – Robin Hoods von Basilikata oder mörderische Kriminelle?

  1. Avatar von Lost in EuropeLost in Europe

    Na DAS war ja interessant !

    Da ich das schöne Wort ‚Brigant‘ ebenfalls romantisch mit ‚etwas gar abenteuerfreudiger Gentleman‘ gleichsetzte (und das Porträt deines gediegenen Signore Crocco diese Einschätzung unterstützt), bleibt er bei mir im Topf mit Robin Hood, basta !
    Beide waren sie eigentlich ‚Wegelagerer‘, und beiden Gentlemen wird diese simple Bezeichnung nicht wirklich gerecht !
    Pah ! So ! 😊

    Like

    Antwort
    1. Avatar von CorinnaCorinna Autor

      Ja, genau „abenteuerlicher Gentleman“ trifft es wohl, was ich über Briganten dachte. Aber irgendwie passt es nicht mehr, wenn man für über 60 Morde verurteilt wird. Dann doch lieber Errol Flynn als Robin Hood. 😉

      Gefällt 1 Person

      Antwort

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..